Page 8 - Stadtanzeiger 05.2015
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       	        8      Nummer 5                                                Netzschkauer Stadtanzeiger               Samstag, 23. Mai 2015                                                              Nach den Nürnberger Rassengesetzen erwartete sie Denunziation,                                                              Demütigungen, Bedrohungen, Entwürdigung, Entzug aller mate-                                                              rieller Lebensgrundlagen und Einweisung in Konzentrationslager.                                                              Sie wurden zu medizinischen Versuchsobjekten und nicht selten                                                              erwartete sie gewollt der Tod.                                                              Ein Beispiel dafür ist die Familie von Isaak Gutfreund. Dass die hoch-                                                              betagte Frau Röder aus dieser Familie an unserer Gedenkveranstal-                                                              tung teilnahm, war für alle Teilnehmer ein besonderer Höhepunkt.                                                              Auch an Felix Mauersberger und Max Kranz wurde erinnert.                                                              Was wissen unsere Schüler noch von Felix Mauersberger? Fragen                                                              wir einmal nach, wir werden erschrecken.                                                              Es war auch ein schwarzer Tag in der Netzschkauer Kommunalpoli-                                                              tik, als die Max-Kranz-Straße wieder in Schützenstraße umbenannt                                                              wurde. Es war fast so, als ob die Opfer faschistischen Barbarei noch                                                              einmal auf den gleichen Leidensweg geschickt werden sollten. Es                                                              macht schon betroffen, wenn sich kaum einer an diese Menschen        In ihrer sehr emotional vorgetragenen Gedenkrede verwies Frau        Rosemarie Hoyer darauf, dass der 8. Mai ein außerordentlich sym-  erinnert oder etwas von ihnen weiß.        bolträchtiger Tag ist und an seiner historischen Bedeutung sich        auch 70 Jahre nach der Zerschlagung des Faschismus noch immer        die Geister scheiden.        Sprichwörtlich wie die Katze um den heißen Brei sind die politisch        Verantwortlichen der BRD in der Vergangenheit um den 8. Mai        herumgeschlichen. Ständig haben sie für diesen Tag neue Bezeich-        nungen gefunden. Es war der Tag des totalen Zusammenbruchs, es        war der Tag der Kapitulation, es  war der Tag mit der Stunde Null,        es war der Schicksalstag des deutschen Volkes.        Und man darf es ruhig betonen – nur in der DDR war es von Beginn        an – der Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus.        In der offiziellen Politik der alten BRD dauerte der Eiertanz um die        historische Bedeutung des 8. Mai bis zum Jahre 1985. Es bedurfte        erst eines wahrhaft klugen Bundespräsidenten, um sich der Be-        deutung dieses Tages bewusst zu werden. Herrn von Weizsäcker        gebührt der Verdienst. In einer überaus bedeutsamen Rede zum        40. Jahrestag des Kriegsendes nannte er den 8. Mai erstmals in der        bundesdeutschen Politik einen Tag der Befreiung.      Pfarrer Scholz wählte als Ausgangspunkt für seine Rede das Mar-        Unsere Erfahrungen mit und in der Bundesrepublik bestätigen   cusevangelium. Er verwies auf die menschliche und revolutionäre        leider die alte Spruchweisheit, dass kluge Politiker kommen und   Seite von Jesus. Gerade die Haltung Jesus zu den Kindern verknüpf-        gehen und dort, wo das Kapital das Sagen hat, bleiben letztlich   te er mit den diametral entgegengesetztenVerhalten der faschisti-        auch kluge Gedanken auf der Strecke bzw. wird das Alte, das Ver-  schen Barbaren. Und am Gedenkstein für die verstorbenen Kinder        hängnisvolle, immer wieder restauriert.               der Zwangsarbeiterinnen, erinnerte er daran, das Menschen – die        Diese Restaurierung wird dann sehr deutlich, wenn man den Be-  die Geschichte nicht kennen, die Zukunft nicht gestalten können.        griff des Zeitgeistes durchleuchtet. So haben wir jetzt wieder die   „Lasset die Kinder zu mir kommen“ – und eine Zukunft ist euch        Situation, in der dieser Tag schlechthin als der Tag des Endes des   gewiss, war nicht nur Ausdruck tiefer Frömmigkeit, sondern ein        Krieges bezeichnet wird.                              echtes Beispiel für die Lebendigkeit christlicher Ethik, die auch er        Es ist uns egal, wie dieser Tag gegenwärtig in der offiziellen Po-  in der gegenwärtigen Politik sehr stark vermisse.        litik bezeichnet wird. Aus der Sicht der Opfer war es der Tag der        Befreiung. Und weil das deutsche Volk zur Selbstbefreiung vom        Faschismus nicht fähig war, kam der Tag der Befreiung für viele        leider zu spät.        Auch für diese Kinder, von denen wir kaum mehr als die Namen        wissen. Sie erlebten diesen Tag nicht. Sie hatten keine Chance ihr        Leben zu leben, zu träumen und zu lieben. Vielleicht wären sie klei-        ne Einsteins, kleine Mozarts oder geniale Erfinder geworden. Sie        hatten keine Chance, es der Welt zu beweisen. Für die Vertreter        der faschistischen Ideologie waren sie unwertes Leben und keiner        fragte danach, ob die Mütter jemals mit ihrem Schmerz fertig wur-        den. Frau Hoyer erinnerte daran, dass es auch in Netzschkau noch        andere Opfer des Faschismus gab, die den Tag der Befreiung nicht        erlebten bzw. nur kurz überlebten. In Ihrer Gedenkrede wurde        betont, dass wir in Netzschkau einige jüdische Mitbürger hatten,        die zu Volljuden, Halbjuden oder Vierteljuden erklärt wurden. Ihr        einziger Makel war, dass sie eine jüdische Mutter hatten.
       
       
     





